Oh, du schöne Sommerzeit!

 

Alles flirrt und surrt. Menschen sitzen plaudernd in Cafés und auf den Spielplätzen spielen Kinder lautstark noch lange in den Abend hinein. Auf meinem Balkon lausche ich dann gerne dem Hall der sommerlichen Gespräche und dem Gelächter meiner Hofnachbarn. Es muss eine frühe Kindheitserinnerung sein, denn die gedämpfte Geräuschkulisse hüllt mich ein, in ein wohliges Gefühl von Sicherheit. Der Sommer ist wirklich meine Zeit. Das Leben scheint sich maximal auszudehnen und feiert seine ganze Fülle.

In der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM), die ihre Jahrtausende alten Ursprünge in der aufmerksamen Naturbeobachtung hat, ist die Wandlungsphase Feuer, das zentrale Element des Sommers. Die Feuer-Kraft expandiert in alle Richtungen. Sie braucht aber, um im Gleichgewicht zu bleiben, einen Anteil, der sie wieder nach innen richtet. Ein gutes bisschen Yin zur überbordenden Yang-Kraft des Feuers, sozusagen.

Und oft passiert es uns, dass im Alltag der Yang-Aspekt des Feuers - die Freude und das Feiern - überhand nehmen und die Ruhe und Innenschau zu kurz kommen. Dieser Yin-Mangel manifestiert sich dann vielleicht in einer Zerstreutheit, Konzentrationsschwäche, Schlaflosigkeit, Ruhelosigkeit oder auch Schmerzen zwischen den Schulterblättern.

Im Shiatsu betrachten wir die Wandlungsphasen noch etwas spezifischer und behandeln insbesondere die dazugehörigen Meridiane. Meridiane sind Energie-Leitbahnen im Körper, die entweder Yin- oder Yang-Qualität haben können und spezifische Funktionen übernehmen. Die Wandlungsphase Feuer hat die Besonderheit, dass ihr nicht nur ein Yin und Yang Meridianpaar, sondern gleich zwei Paare zugeordnet werden: Der Herz- und der Dünndarm-Meridian sowie der Herzkreislauf- und der Dreifache Erwärmer-Meridian.

Hier möchte ich hauptsächlich auf den Herz-Meridian und seine Qualität eingehen, da er das wesentliche Zentrum des Feuer-Elements darstellt. Wenn wir in Kontakt kommen mit unserer Herz-Energie, dann entsteht eine allumfassende Verbindung zu unserem innersten Sein. Sie berührt alles was uns ausmacht, die guten wie auch die schlechten Erfahrungen. Ist das Herz-Ki (Ki: japanisch für Kraft, Energie) ausgeglichen, dürfen alle Emotionen gleichwertig da sein und verleihen uns das Gefühl von Ganzheit und Verbundenheit mit uns und der Welt, die uns umgibt.

Um die Herz-Energie in uns aufzuspüren, braucht es Ruhe und Orte ohne Müssen und Sollen.
Ein wenig Stille, um genau hinzuhören.

Das Herz-Ki interpretiert unsere Erfahrungen in der Außenwelt, reduziert sie auf das für uns Wesentliche und verwebt sie zu einem einzigartigen Stoff, der uns im Innersten zusammenhält.

Für diesen Prozess braucht es Ruhe und Orte der Muße. Geben wir uns diese Momente, so kann unsere Herz-Energie integrieren und definieren, was uns als Individuum ausmacht. Gleichzeitig sind wir in einem tiefen Kontakt dazu und können auch nach außen ganz klar kommunizieren, was uns wichtig ist.

Vielleicht erinnerst Du Dich jetzt daran, das morgendliche Meditieren oder Deine Yogapraxis wieder öfters aufzunehmen? Vielleicht eine Bergtour in Stille? Oder vielleicht ist es das bewusste Nichts-Tun für eine Weile, die Beine hochlegen und Löcher in die Wand starren?

Vor Kurzem habe ich auf meinen Sohn gewartet und bewusst das Handy in der Tasche gelassen. Mit einem Mal sind mir die vielen unterschiedlichen Vogelstimmen aufgefallen, die zu hören waren. Ein wahrer ornithologischer Forschersinn wurde in mir geweckt, der keinen anderen Zweck verfolgt, als auf bisher unbekannte Art und Weise mit meiner Umwelt in Verbindung zu gehen. Es erfüllt mich mit kindlicher Freude, wenn ich jetzt differenziert hinhöre und versuche die Vogelstimmen zu erraten.

Nichts anderes passiert im Shiatsu. Du kommst in der Ruhe der Behandlung mit Dir selbst in Kontakt und kannst Dich dadurch anders wahrnehmen. Du hörst durch Deinen Körper Neues und vielleicht Altbekanntes und veränderst damit Deine Wahrnehmung im Alltag. Wäre das nicht wunderbar?

Schaffen wir es, das Feuer-Element in uns in einem guten Yin und Yang Gleichgewicht zu halten, so kommen die Ausgelassenheit und der Tanz auf’s Leben nicht zu kurz. Und gleichzeitig empfinden wir eine stille Freude und Gelassenheit. Vielleicht mit einem Lächeln auf dem Gesicht, ganz im Sinne des japanischen Dichters Kobayashi Issa (1763-1828), der dieses Sommer-Haiku verfasst hat:

Gratuliert mir nur -
stachen mich die Mücken doch
auch in diesem Jahr!
— Issa
Joanna Mederle